Logo Kulturpolitischer Salon

RÜCKSCHAU ZUM 6. KULTURPOLITISCHEN SALON »UNBEKANNTE NACHBARN?«

DER EU EINE SEELE?

von Christian Lehmann und Gabriella Gönczy, Arbeitsgruppe Leipzig der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Im September 2003 hielt Staatsministerin Christina Weiss im ersten, von der Regionalgruppe Sachsen/Leipzig der KuPoGe initiierten »Kulturpolitischen Salon« eine programmatische Rede über die kulturelle Dimension der EU-Osterweiterung. »Kulturelle Leuchttürme im Osten Europas«, »gemeinsame Orte der Erinnerung« oder »ein neues Marketing´ für die Europäische Idee« lauteten ihre Vorschläge. Am 1. Februar 2005 fragte der sechste »Kulturpolitische Salon« nach der Nachhaltigkeit dieser hehren Ziele von 2003, nach der heutigen Verfasstheit europäischer Kulturpolitik sowie nach den Mitteln, die das europäische Bewusstsein stärken können. Impulse und Ergebnisse der »Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik« vom November 2004 sollten aufgegriffen werden und kulturpolitische Instrumente wie das von Staatsministerin Weiss projektierte »Blaubuch für Osteuropa«, auf ihre Tauglichkeit hin befragt werden. Die Moderation übernahm die Leipziger Journalistin Ulrike Gropp.

Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 erhielt die EU erstmals überhaupt eine Kompetenz kulturelle Aktivitäten zu fördern, erklärte Doris Pack MdEP, vorher galten nur ökonomische Prinzipien. Doch wer denkt, jetzt sei alles anders, dem erklärt die Europaabgeordnete aus erster Hand eine Absage: »Noch heute gibt die Europäische Union fast 50 Prozent der Gelder für Landwirtschaftspolitik, fördert aber nur mit 0,03 Prozent den kulturellen Austausch.« Das entspricht jährlich 7 Cent pro Unionsbürger - »ein geradezu jämmerlicher Betrag im Vergleich zur Förderung von Olivenpflanzen oder Schnittblumen«. Das hat inzwischen auch EU-Kommissionspräsident Barroso eingesehen, der in der Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik erklärte, dass auf der Werteskala kulturelle Werte höher einzustufen seien als ökonomische: »Wirtschaft brauchen wir um zu leben - Kultur macht unser Leben lebenswert!«, sagte er. Doris Pack MdEP sieht es deshalb als ihre Aufgabe für die nächsten Jahre, Barroso beim Wort zu nehmen. In ihrem engagierten Einführungsstatement sprach die gerade aus Serbien zurückgekehrte Pack über die europäische Kulturpolitik als einen wichtigen Bestandteil der künftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, weil sie als »Frühwarnsystem und effektive Konfliktprävention« fungieren und »die Wertschätzung von Unterschiedlichkeit und kulturellem Dialog über Europas Grenzen hinaustragen« könne. Sie machte weitere konkrete Vorschläge, z.B. Vereinfachung der Antrags- und Entscheidungsprozesse, Konstituierung der europäischen Öffentlichkeit, stärkere Förderung von Mobilität und Mehrsprachigkeit sowie den Verzicht auf Prestigeprojekte.

Apropos, Prestigeprojekte: Manfred Ackermann, Mitinitiator des »Blaubuchs für Ostdeutschland« plädierte dafür, ein »Blaubuch für Osteuropa« zu entwickeln, ein Verzeichnis von besonders förderungswürdigen Kultureinrichtungen von einem besonderen europäischen Rang bzw. mit Leuchtturmcharakter. Dies würde eine Solidaritätsbekundung an die neuen Mitgliedstaaten der EU bedeuten, die allen nütze. Der Vorschlag fand bei den anderen Podiumsgästen nur wenig Anklang. Laut Doris Pack wird der ganz normale Bürger durch ein »Blaubuch« nicht animiert, sich Europa zu erschließen. Jan Sokol, tschechischer Bildungsminister a.D., zurzeit Philosophieprofessor an der Prager Universität, befürchtete, dass durch das »Blaubuch für Osteuropa« mehr Korruption entstehen würde.

Im Übrigen sehe es gar nicht so schlecht aus in seinem Land. Viele Pessimisten hätten prognostiziert, dass die Kulturlandschaft nach 1989 zusammenbreche. Trotz der radikalen Kürzung der Subventionen gibt es heute jedoch genauso viele Theater wie damals und noch nie seien so viele Bücher erschienen, wie heute. Laut Kazimierz Woycicki, bislang Direktor des Polnischen Instituts in Leipzig und zurzeit Leiter des Instituts für Nationales Gedenken in Stettin, fehle es in erster Linie auch nicht an Geld, sondern v.a. am grenzüberschreitenden Vertrauen, Verständnis und Toleranz: »Die Leute wandern von Ostdeutschland ab, weil sie glauben, hinter der Grenze beginne die Steppe. Hier brauchen wir, meine lieben Sachsen, eine mentale Revolution.« Beginnen würde er bei den Jüngsten mit mehr Polnisch- und Tschechischunterricht an sächsischen Schulen.

Aus dem Publikum drängte man umso nachdrücklicher auf die Realisierung europäischer Projekte, wie z.B. europäische Schulbücher für den Geschichtsunterricht, Internetprojekte für eine europäische Integration »von unten« und einen Europäischen Fernsehsender. Wie all das mit dem eher symbolischen EU-Budget zu schaffen sei? Eine Frau aus dem Publikum ruft ganz selbstverständlich: »Wir wählen doch die Abgeordneten, damit sie unser Anliegen durchsetzen«.

Der Salon zeigte, dass viele Wege und Umwege nach Europa führen und die Diskussion um den Prozess einer europäischen Identität voranschreitet – an diesem Abend sogar bis über Mitternacht.

 

Es diskutierten:

  • Kazimierz Woycicki, Direktor des Instituts für Nationales Gedenken in Stettin
  • Doris Pack, Mitglied des Europäischen Parlaments
  • Jan Sokol, Philosophie-Professor in Prag, ehem. tschechischer Bildungsminister
  • Manfred Ackermann, Mitverantwortlicher »Blaubuch Ostdeutschland«, ehem. Mitarbeiter der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien
  • Moderation:
    Ulrike Gropp, Leipziger Journalistin

Der 6. Kulturpolitische Salon zum Thema »Unbekannte Nachbarn? Europäische Kulturpolitik konkret« fand am 1. Februar 2005 um 19 Uhr in der  Oper Leipzig statt.

 

zur Archiv-Übersicht