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PRESSESTIMME

ALLE DIESE LÄNDER GEHÖREN SEIT 1000 JAHREN ZU EUROPA

EU-ERWEITERUNG UND KULTUR: DEBATTE MIT CHRISTINA WEISS IN DER LEIPZIGER OPER

aus der  Leipziger Volkszeitung vom 18. September 2003

Vor der Tür stehen Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen. Dahinter Witze, Ängste, Fragen. Was ist europäische Identität? Wie gehen wir mit unserer Geschichte um? EU-Osterweiterung. Ein großes Thema für den ersten Kulturpolitischen Salon im Konzertfoyer der Leipziger Oper am Dienstagabend. Voll ist es da unter den Kronleuchtern. über 200 Gäste sind gekommen, Hausherr Henri Maier muss Stühle nachordern. Auf dem Podium harren die Diskutanten. Kulturstaatsministerin Christina Weiss hält erstmal eine Rede.

Drei Tage war sie sommers ins deutsch-polnische Grenzgebiet gereist. Man spürt: Das Thema ist ihr ans Herz gewachsen. Im Kabinett sitzt die Kultur am Katzentisch, hier kann die Minsterin sich und ihren Zuhörern versichern: Kultur ist wichtig. Sie erst schaffe eine gemeinsame europäische Identität, sagt sie. Und: »Nicht der Euro, sondern das Sprechen und Zuhören, Fragen und Erklärungen sind das Lebenselement unserer europäischen Gemeinschaft.« Weiss fordert eine »Osterweiterung des europäischen Bewusstseins«, einen »Wahrnehmungssprung« und »Mentalitätswandel« kurz: »ein erweitertes kulturelles Bewusstsein«.

Vorschläge macht sie, vom »anderen Marketing für die europäische Idee« über länderübergreifende Projekte und Städtepartnerschaften bis zur Schaffung »gemeinsamer Orte der Erinnerung« oder die Förderung von Kulturtourismus und bürgerschaftlichem Engagement. An einigen Stellen scheint die Rede dann doch besser in einen Salon an der Hamburger Alster zu passen, wenn sie mit Blick Richtung Osten klagt: »Unsere Nachbarn sind uns unbekannt geworden ... Ein halbes Jahrhundert Nachkriegsgeschichte hat ein großes unbekanntes Niemandsland hinterlassen.« Ausgerechnet in Leipzig? Ein Programm für die »kulturellen Leuchttürme« im Osten Europas fordert sie, ein »Blaubuch« soll sie auflisten.

Für Ostdeutschland gibt es das bereits. Doch entgegen dem Koalitionsvertrag wird das ihre Sanierung unterstützende Programm gestrichen. Also Kultur in Europa statt »Kultur in den neuen Ländern«? Stopp. Darum geht es an diesem Abend nicht. Dafür folgt eine spannende Podiumsdiskussion, zum Aperitif gibt es Anekdoten, die das Thema hinterrücks beleuchten. Andrzej Tomaszewski, Leiter des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker, hat eine. Nachdem er dem Redakteur einer Berliner Zeitung seinen Namen aufgeschrieben hatte, habe der Mann den Zettel genommen und gesagt, »Danke, dass Sie lateinische Schriftzeichen verwendet haben«, erzählt Tomaszewski, um dann zum Rundumschlag über das Gebilde »Europa« und das Chaos der Begriffe auszuholen: »Es geht nicht nur um Ost- sondern auch um Süd- und Norderweiterung«.

Und überhaupt: »Alle diese Länder gehören seit 1000 Jahren zu Europa. Kein Land kommt zurück. Wir sind alle da.« Einfach nur »dumm« sei die Teilung in Ost und West. »Bis zum 18. Jahrhundert war Kultur nur europäisch, nicht national geprägt.« Die Verwirrung, so Moderator Henning von Löwis vom Deutschlandfunk, beginne ja schon bei Wörtern wie »Mitteldeutschland«. Viele würden ängstlich die deutschen Namen von polnischen Orten meiden. »Das ist ein Ausdruck unserer Hilflosigkeit. Da würden auch keine Verordnungen helfen. Wir müssen uns immer wieder verstricken«, analysiert Christina Weiss. »Dass wir ein Problem mit dem Selbstbewusstsein haben, haben wir verdient.«

»Erzählen Sie uns doch mal was über die deutsche Verkrampfung«, bittet der Moderator beinahe lustvoll. Krzysztof Wojciechowski, Direktor des Collegium Polonicum in Slubice, grinst. »Habe ich eine Stunde Zeit?« Hat er nicht. In einem Satz: Wie im Krebsgang vermeide der Deutsche bestimmte Themen wie Patriotismus, verliere damit Ausstrahlung.

Kathinka Dittrich van Weringh, Gründerin des Moskauer Goethe-Instituts, sieht genau darin eine Chance. »Deutschland macht eine unverkrampfte liberale Kulturpolitik nach außen.« Andrzej Tomaszewski sekundiert in Richtung Weiss: »Ich schätze sehr hoch, dass Sie als erste deutsche Kulturministerin einen Besuch in Polen gemacht haben.«

In Deutschland gibt es offenbar mehr zu tun. Noch eine Anekdote, von Moderator von Löwis, frisch erlebt: In Leipzig habe er im Hotel einen »Express-Check« genossen, bevor ihm der »Hotel-Passport« ausgehändigt worden sei. »Herzlich Willkommen«, stand da in allen möglichen Sprachen, auf Englisch zum Beispiel, Französisch, Japanisch, »sogar auf Deutsch«, erzählt von Löwis. »Warum aber nicht auf Polnisch oder Tschechisch?« Herzlich willkommen, Osteuropa ...

 

© Jürgen Kleindienst; Leipziger Volkszeitung, 18.09.2003.

 

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